Wie lässt man für Ausstellungsbesucher eine vergangene Welt vor dem geistigen Auge wieder auferstehen? Museen und Ausstellungen tun das mit Hilfe von Exponaten und erläuternden Texten. Das kann gut funktionieren, wenn es auf der einen Seite um alltägliche Objekte wie Werkzeug, Alltagsgegenstände und Kleidung geht, denn auch heutige Menschen gehen mit derlei Gegenständen um. Es funktioniert normalerweise auch mit Exponaten, die immer noch eine starke Wirkung auf unsere jetzige Zeit haben – wie etwa das Dokument der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – oder in deren Kontext Zeitzeugen heute noch leben, wie das etwa bei Teilen der Berliner Mauer der Fall ist. Speziell bei Zeiträumen, die nicht mehr als 100-150 Jahre zurückliegen, bietet sich normalerweise zusätzlich die Möglichkeit an, auf zeitgenössische Ton- und Filmdokumente zurückzugreifen.
Ungleich schwieriger stellt sich die Situation dar, wenn es darum geht, Zeiten und Situationen wieder auferstehen zu lassen, die bereits mehrere hundert Jahre zurückliegen, weil die Sozialstrukturen und Lebenswirklichkeiten der Menschen heute, im Vergleich zur damaligen Zeit, doch sehr unterschiedlich sind. Als das Metropolitan Museum of Art („The Met“) sich in der Planungsphase zur Ausstellung „Visitors to Versailles (1682-1789)“ befand, war es die Aufgabe von Nina Diamond, geschäftsführende Redakteurin und Produzentin im Content-Team der Digitalabteilung von The Met, die Exponate der Ausstellung mit digitalen Medien zu unterstützen.

Daniëlle Kisluk-Grosheide, Kuratorin in der Abteilung für Europäische Skulptur und Kunstgewerbe, wollte mit der Ausstellung nicht nur Exponate im Zusammenhang mit Besuchen des Palastes und Hofes von Versailles präsentieren, sondern vor allem die Erlebnisse der Besucher aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert vermitteln.

Eine Vielzahl von Reiseberichten verschiedener Personen, die Versailles besucht haben, war die Grundlage für die Gestaltung der Soundscapes.

Über viele Jahre hinweg sammelte sie Quellenmaterial, um die konzeptuelle Struktur der Ausstellung zu unterstützen, zusammengestellt in einer großen Anzahl von Ordnern. Diese enthielten eine Unzahl zeitgenössischer Reiseberichte. Genug Material also für – ja, für was eigentlich? Eine multimediale Unterstützung für Exponate aus einer Zeit, aus der es noch keine originalen Ton- und Filmdokumente geben kann, endet häufig in einer ergänzenden Sprachbeschreibung der Exponate. Das ist besser als Texttafeln allein, aber es war nicht das, was dem Content-Team vorschwebte.
Tatsächlich hat es ja in dem Zeitraum, den die Ausstellung umfassen sollte, wirklich zahlreiche Palastbesucher gegeben: internationale Botschafter, europäische Könige (die Versailles oft inkognito und mit einem vorgeblich niedrigeren Rang besuchten, um zu viel Prunk, Umstände und Kosten zu vermeiden), Schriftsteller, Dichter, Architekten, Genießer, Klatschtanten und normale Touristen. Viele dieser Besucher haben der Nachwelt Reiseberichte hinterlassen, die sich nicht selten auch mit scheinbar unbedeutenden Details und sogar Klatsch befassten.
Wussten Sie zum Beispiel, dass sogar John Adams, ab 1778 auf einer diplomatischen Mission in Frankreich und später 2. Präsident der USA, sich darüber beschwerte, dass die Franzosen den Markt für Mode erobert hätten? Ein anderer Besucher war bestürzt darüber, dass der König einen schlotternden Gang und eine schlechte Haltung hatte. „Hast du gesehen, dass diese Dame dort kein Make-up trägt?“,“Das Essen ist viel zu gesalzen, in England ist es viel besser“, „Kannst du den Schmutz auf der marmornen Eingangstreppe glauben?“ und so weiter und so weiter.
Dies sind alles Details, die die Berichte der Besucher normal und menschlich machen, die man aber nur schlecht mit einer Beschilderung an den Exponaten kommunizieren kann. Wie kann man aber die jahrhundertelange Lücke zwischen diesen historischen Besuchern und den Besuchern der Met heute schließen? Wie könnte man ihre Berichte so aufbereiten und transportieren, dass sie sich bedeutungsvoll und vor allem lebendig anfühlen?

Die verschiedenen Exponate können als visuelle Anker dienen, um die Phantasie der Besucher in Verbindung mit der immersiven 3D-Soundscape anzuregen, die von individuellen Kopfhörer-basierten Audioplayern wiedergegeben wird.

Für Diamond war sehr schnell klar, dass ein traditioneller Audio-Guide, bei dem Experten (Sprach-)kommentare zu bestimmten Objekten beisteuern, den Wert dieser Schatzkammer lebendigen Primärmaterials nicht wirklich zur Entfaltung bringen würde. Das Projekt brauchte einen ganz anderen Ansatz, um die Unmittelbarkeit der Erlebnisse der Besucher von Versailles, die aus ihren Berichten spricht, voll zur Geltung zu bringen.
In den folgenden Monaten nahm die Idee, auf den traditionellen Kommentar zu verzichten, weitere Formen an. Die Idee war, die Museumsbesucher akustisch in lebendige Szenen zu versetzen, wie sie sich am Hof von Versailles abgespielt haben könnten. So etwa: sich für den Hof anziehen, im Palast ankommen, die Gärten besuchen oder den König sehen.

Die der Galerie „The Gardens“ gewidmete Soundscape spiegelt die Erforschung der Tiere wider, die tatsächlich in der königlichen Menagerie waren.

Es wurden Drehbücher für zehn akustische Inszenierungen, „Soundscapes“, verfasst, die es den historischen Figuren auch ermöglichen würde, sich im Gespräch miteinander zu unterhalten. Einige dieser Charaktere sollten glänzend miteinander auskommen, andere nicht so sehr. Wenn Sie zum Beispiel die Gartenszene anhören, werden Sie erfahren, dass viele Besucher über die Schönheit der Brunnen schwärmen – aber ein anderer Reisender unterbricht sie. Er verkündet, dass die Gärten „geschmacklos“ seien, und die Statuen, die Wasser sprudeln lassen, „vulgär“.

Wie bei allen einfachen Ideen steckt bei der Ausführung oft der Teufel im Detail. Das Team führte unzählige Gespräche, sah stapelweise Dokumente durch, die freundlicherweise von den Kuratoren zur Verfügung gestellt wurden, recherchierte biographische Details historischer Persönlichkeiten und wälzte auch Zahlen für das Budget. Das Ziel war, das Besuchererlebnis frisch und ansteckend werden zu lassen und die Emotionen wieder zum Leben zu erwecken – ob nun Aufregung, Neugierde, Ehrfurcht, Irritation, Demütigung oder Freude.

Während ein normaler Audiokommentar typischerweise 90s dauert, waren diese Soundscapes auf eine Länge von 2-4 Minuten ausgelegt. Die Idee war, dass dieses längere Format die Besucher des Met-Museums dazu ermutigen würde, sich während des Zuhörens umherzubewegen. Das Erlebnis der Besucher eines solchen „Geschichtenerzählens in Bewegung“ sollte so auch eine physische Reise durch die Rhythmen und Rituale des Palastes hervorrufen. Dieses durchwandern der Räume des Palastes ist eine zeitlose Erfahrung: Noch heute besuchen mehr als sechs Millionen Touristen pro Jahr Versailles, um seine grandiosen Ansichten von Raum zu Raum aufzunehmen.

Je näher man der eigentlichen Audioproduktionen kam, desto mehr mussten auch praktische Gesichtspunkte geklärt werden: Ähnlich wie bei Hörspielen sind die Akteure hier ja nicht sichtbar, so dass die Hörer die verschiedenen Charaktere anhand ihrer Stimmen unterscheiden müssen. Wenn man ein halbes Dutzend oder mehr Personen in der jeweiligen Soundscape hat, muss man sich also überlegen, wie man sie am besten auseinanderhalten kann. Details in Bezug auf Nationalität, Alter und Temperament sind signifikante Merkmale, um diese Rollen am überzeugendsten mit professionellen Schauspielern besetzen zu können.

Die Kunstkopf-Aufnahme repliziert die dreidimensionale akustische Umgebung der aufgenommenen Szene. Dazu mussten die Aufnahmen choreographiert und alle Akteure (im Bild links David Mara, rechts Joe Bone) in die Richtungen und Abstände gebracht werden, die die aufzunehmende akustische Szene erforderte.

Natürlich kommen auch Soundeffekte und Musik hinzu. Ebenso hatten auch die Räumlichkeiten und Umgebungen des Palastes eine eigene akustische Signatur, die man wiederauferstehen lassen musste, um authentische Soundscapes zu produzieren.
Das gesamte Team war sich einig darüber, dass man kein kitschiges Klangerlebnis wollte, wie in einem Freizeitpark klang, mit Leuten, die in historischen Kostümen verkleidet sind und nur eine Show abliefern. Es musste sich im Gegenteil lebendig anfühlen und nicht übertrieben.

Man war sich eigentlich auch darüber im klaren, dass man erstens keine Tonzuspielungen mit Lautsprechern in den Galerien haben wollte und entschied sich auch gegen Beacons, die Bluetooth verwenden, um Audio auf Smartphones auszulösen, aber den Besuchern nicht erlauben, den Start und das Ende eines Audiotracks zu kontrollieren.

Das Schlüsselerlebnis für Diamond war schließlich eine Museumskonferenz, in der von einer in London produzierten Indoor-Outdoor-Walking-Tour mit 3D-Sound auf der Basis von binauralen Tonaufnahmen berichtet wurde. Dieses Konzept, so das Met-Team, sollte auch die Grundlage der Audiounterstützung für „Visitors to Versailles“ werden.

 

Der Neumann-Kunstkopf KU100 war eine Schlüsselkomponente – und das Hauptmikrofon – für die 3D-Audioaufnahmen, die die Grundlage für das immersive Erlebnis der Besucher bildeten.

Die Binauraltechnik geht davon aus, dass man auch komplexe auditive Szenen reproduzieren kann, indem man die Vorgänge beim natürlichen zweiohrigen Hören nachbildet. Das menschliche Gehör hat nur zwei Eingangssignale, nämlich den Schalldruckverlauf an den beiden Trommelfellen. Damit sind wir in der Lage, uns auch in sehr komplexen akustischen Umgebungen zu orientieren, einzelne Schallquellen herauszuhören und uns auch auf verschiedene Teilaspekte einer akustischen Szene zu konzentrieren. Dies ist natürlich zum großen Teil einer Leistung des Gehirns, der Input besteht aber in nur zwei Audiosignalen. Dies macht man sich beispielsweise bei der Kunstkopf-Stereofonie zu Nutze, mit der man oft eine geradezu verblüffende Natürlichkeit des Hörerlebnisses erreichen kann. Um die Natürlichkeit der Reproduktion zu erhalten, kann man sich den Aufwand nicht ersparen, die besagten Ohrsignale am Trommelfell des Hörers möglichst getreu zu reproduzieren. Das bedeutet mindestens, hochwertige Kopfhörer zu benutzen und ist gleichzeitig der Grund, warum die Kunstkopf-Stereofonie nicht allgemein weiter verbreitet ist: Lautsprecherwiedergabe funktioniert nicht. Es gibt zwar spezielle Lautsprechersysteme, mit denen man eine Kopfhörer-ähnliche Wiedergabe erreichen kann. Diese sind aber nur für unbewegte Zuhörer geeignet oder zu aufwändig, um consumertauglich zu sein.
Für das Met war dies jedoch kein Nachteil, da sich das Museum ja bereits zuvor gegen eine Lautsprecherwiedergabe entschieden hatte. Das Konzept sah also vor, individuelle Audiosysteme mit hochwertigen Kopfhörern für die Besucher einzusetzen. Das reißt zwar ein etwas größeres Loch ins Budget als ursprünglich geplant, belohnt aber gleichzeitig durch eine ausgesprochen überzeugende akustische Szene. Darüber hinaus haben die Besucher die Möglichkeit, die Audiozuspielung individuell zu steuern. Auf diese Weise entsteht eine eine immersive Tour, die integraler Bestandteil der Ausstellung „Visitors to Versailles“ wurde.

Nach langen Gesprächen über die Vision des Teams, das Budget und die Logistik verwendete Chris Timpson, Mitbegründer von Aurelia Soundworks und Produktionspartner von The Met für dieses Projekt, Auszüge aus dem Skriptentwurf, um einen kurzen, aber beeindruckenden binauralen Prototypen zu erstellen.
Dieser war bereits sehr überzeugend, so dass Kuratorin Daniëlle Kisluk-Grosheide die vorgeschlagene Form des Audioerlebnises als integralen Bestandteil ihrer Vision der Ausstellung einschätzte. Das Ergebnis ist eine immersive Tour, die integraler Bestandteil der Ausstellung „Visitors to Versailles“ wurde.
„Integral“ ist hier ein kleines, aber entscheidendes Wort: Das Audio-Erlebnis sollte allen Besuchern der Ausstellung zur Verfügung stehen, nicht nur den wenigen, die normalerweise für die Miete des Audio-Guides bezahlen. Als das Team die prognostizierten Besucherzahlen ansah, stellte man fest, dass man einen wahren Berg von Geräten und Headsets benötigen würde. Würde die Ausgabe angesichts der Besucherströme funktionieren? Könnte die Designabteilung dies durch eine Anpassung der Architektur des Eingangs zur Ausstellung berücksichtigen? Und was würde das alles kosten?
Ersparen wir uns die Details und stellen fest, dass das Team das Konzept durchgehalten hat und die Idee in die Realität umsetzen konnte.
Für die praktische Realisierung waren allerdings eine ganze Reihe von Punkten zu bedenken und auch einige Hürden zu überwinden. Daher gingen Monate in die Vorbereitungsarbeit des Teams für die Forschung und Drehbuchentwicklung, bevor es den ersten Termin in London mit Timpson geben konnte. Da das Drehbuch vollständig aus Anpassungen der Berichte der tatsächlichen Besucher des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts geschrieben wurde, waren die biographischen Details wirklich wichtig, als es um das Casting ging. Wie alt waren diese historischen Besucher? Woher kamen sie? Welche Art von Akzenten hatten sie? In welche Klasse gehörten sie? Waren sie humorvoll? Steif? Waren sie beeindruckt von dem Palast und dem Hof oder kritisch?

Um nicht den besagten „Themenpark-Eindruck“ hervorzurufen, wollte man zum Beispiel nicht, dass amerikanische Schauspieler internationale Akzente vortäuschen. Glücklicherweise konnte man mit Sprecherregisseur Daniel Marcus Clark zusammenarbeiten, um die Audio- und Video-Samples von Schauspielern von mehr als zwanzig britischen Agenten zu sichten. Clarks Erfahrung, Phantasie und Sinn für Humor waren von unschätzbarem Wert, mehr als ein Dutzend Schauspieler auszuwählen, die von der Isle of Wight, Deutschland, Frankreich und anderen Orten stammten – alle ausgewählt wegen ihrer Fähigkeit, einen bestimmten historischen Besucher überzeugend darzustellen.

Aber eine starke Besetzung ist nur ein Weg, um Authentizität zu erreichen. Das Team um Nina Diamond musste auch sicherstellen, dass das Timing der Erzählung und der Soundeffekte im Endprodukt mit dem Design und der physischen Anordnung der Objekte in den Ausstellungsräumen übereinstimmte.

Für optimale Klangergebnisse erstellte das Team eine detaillierte Choreographie für die Schauspieler. Dadurch wurde sichergestellt, dass ihr Text im idealen Abstand und in der idealen Position zu den beiden Mikrofonen im Kunstkopf aufgenommen wurde.

 

Um eine möglichst realistische Audioszene zu generieren, war für die Aufnahmen der Einsatz eines Kunstkopfes geplant. Daher war es umso komplizierter, von der Planung zur Produktion über­zugehen, denn man konnte ja nicht die üblichen Multi-Mikrofon-Mehrspurtechnik nutzen und dann in der Postproduktion alles richten. Der Kunstkopf nimmt die akustische Szene ja so auf, wie sie sich zum Aufnahmezeitpunkt darstellt. Daher mussten Chris Timpson und Nina Diamond choreografieren, wie sich die Schauspieler um den Aufnahmekopf bewegen sollten, während sie ihren Text sprachen. Da die Ausstellungsgalerie „The Gardens“ beispielsweise Objekte zeigt, die sich auf die Brunnen auf der linken Seite beziehen, mussten entsprechend die Wassergeräusche auf dieser Seite sein und die Schauspieler ihren Text in das linke Ohr des Kunstkopfes sprechen.

 

Tage später war man schließlich bereit, die Schauspieler aufzunehmen, die das Drehbuch aufführten. Basierend auf der zuvor entworfenen Choreographie trainierte Timpson sie, wie man sich um den Kopf bewegt und wie nah man seinen beiden „Ohren“ kommen sollte.

Realistische akustische Umgebung

In einem Studio ist selbst eine so wenig alltägliche Sache wie eine Kunstkopfaufnahme mit Choreografie noch einigermaßen unkompliziert. Die Aufnahmen sollten aber auch an die einzigartige Inneneinrichtung von Versailles erinnern und den akustischen Charakter der Räumlichkeiten widerspiegeln. Man bräuchte also eine Art akustischen Fingerabdruck der jeweiligen Räume.
So etwas kann man mit der heutigen Technik und einem gewissen Aufwand auch auf der Basis von Faltungshall-Algorithmen hinbekommen, würde dann aber noch vor dem Problem der im Raum sich bewegenden Schauspieler stehen.

 

Ein Glücksfall: Das Innere von Oldway Mansion in Devon, UK, enthält Räume, die denen im Palast von Versailles nachempfunden sind. Die Kunstkopf-Aufnahmen weisen daher einige der atmosphärischen und akustischen Merkmale der markanten Architektur des Palastes in Frankreich auf.

Das Met-Team hatte allerdings bei der Lösung des Problems einer authentischen akustischen Umgebung wirklich Glück: In Paignton, in der britischen Grafschaft Devon, gibt es das Oldway Mansion, erbaut von Paris Singer, Erbe des Singer-Nähmaschinenvermögens. Paris Singer warb um die Gunst der berühmten amerikanischen Tänzerin Isadora Duncan, die vom Palast von Versailles entzückt war. Daher ließ Paris Singer einige Räume in Oldway Mansion im Stil des Palastes von Versailles erbauen. Hier haben wir also den ausgesprochen seltenen Fall eines lebensgroßen „Akustikmodells“ das zumindest in einigen Räumen seinem historischen Vorbild sehr ähnlich ist. Und: Im Gegensatz zum Original kann man es für einige Tage anmieten, um dort Kunstkopfaufnahmen in einer realistischen, um nicht zu sagen: authentischen, akustischen Umgebung aufzunehmen.

Um zum Beispiel Geräusche einzufangen, die eine Bewegung durch die verschiedenen architektonischen Räume des Palastes suggerierten, nahm man den temperamentvollen Schauspieler Joe Bone auf, als er Oldways Nachbildung der Treppe der Botschafter aus Marmor durch einen Korridor und einige alte Holztreppen hinaufstürmte. Timpson huschte in Socken hinter ihm her (um kein Geräusch zu machen) und trug dabei den Kunstkopf.

 

Die Sängerin und Schauspielerin Karoline Gable singt die Arie „Lascia ch‘io pianga“ aus Georg Friedrich Händels Oper Rinaldo. Die daraus resultierende Aufnahme ist Bestandteil der Soundscape „Off Limits“, die an einen Besuch im privaten Wohnzimmer und Salon der Mätresse des Königs, Madame du Barry, erinnert.

Das Ergebnis? Wenn Sie sich die Szene „Off-Limits“ anhören, in der der Schriftsteller Henry Swinburne die Privatwohnung der von der Oper besessenen Geliebten des Königs besucht, werden Sie spüren, dass Sie auch neben ihm durch den Palast eilen. Wenn Swinburne dann eine kleine, gewundene Treppe besteigt, hören Sie auch, wie das Holz unter den Füßen knarrt. Während Sie zusammen klettern, ertönt die zarte Stimme der Schauspielerin und Sängerin Karoline Gable von oben aus dem offenen Oberlicht einer Tür. Wenn sich die Tür öffnet, hört man, wie sie die Arie weitersingt, aber diesmal ist es, als ob man sich auch im Raum befindet. Um diesen Effekt zu erzielen, nahm das Team Gable auf mehrere verschiedene Arten auf: zuerst von außerhalb der Raums, dann die Treppe hinaufsteigend, dann in dem kleinen Raum mit Gable, wobei die niedrige Deckenhöhe und die Raumgröße dem Charakter der Architektur von Madame du Barry’s Salon entsprach.
Timpson fügte auch digitale Effekte in der Postproduktion hinzu, um das Gefühl zu verstärken, sich durch den Palast zu bewegen und in einem privaten Bereich zu sein. Wenn man genau hinhört, scheint der Wind draußen nach der Hälfte der Arie anzuheben und es gibt eine Art dimensionale Verschiebung in Gables Stimme. Diese Details rufen das Gefühl hervor, dass Sie und die anderen im Salon eine wehmütige Träumerei erlebt haben. Wenn der dieses Gefühl vermittelnde Soundeffekt abklingt, ist es, als ob Sie wieder im Salon wären, und die Menge applaudiert um Sie herum.
Nicht immer klingt es so, wie man es bei der Aufnahme von Audiomaterial erwartet. Das bedeutet, etwas ironischerweise, dass das Team, um die Dinge real klingen zu lassen, verschiedene Ansätze und Tricks verwendete, um ein bestimmtes Ergebnis zu simulieren. Nehmen wir zum Beispiel den Klangeindruck, in einer Menschenmenge aus dem achtzehnten Jahrhundert zu sein. Timpson und Clark verwendeten dazu eine Aufnahmetechnik, die von Walter Murch, einem berühmten Filmeditor und Sound-Designer, konzipiert wurde: „Worldizing“ ermöglicht es (Ton-)Bearbeitern, bestehende Aufnahmen in einem bestimmten Raum (in diesem Fall bei Oldway) abzuspielen und dann dieses Material, zusammen mit dem raumeigenen Klangcharakter, neu aufzunehmen.

 

„Worldizing“ in Oldway Mansions Spiegelsaal. Hier werden Lautsprecher verwendet, um eine Menschenmenge im Saal zu simulieren. Wenn man beispielsweise den Kunstkopf entlang einer Reihe von Lautsprechern bewegt, die individuell menschliche Stimmen und Gesprächsfragmente wiedergeben, wird ein Hörerlebnis erzeugt wie wenn man einer sprechenden Menschenmenge vorbeiginge.

Zu diesem Zweck brachte das Team Aufnahmen einiger der Darbietungen, die im Londoner Studio entstanden waren, mit zu einer Soundinstallation in Oldways Spiegelsaal mit. Von zwölf Lautsprechern, die im Raum aufgestellt waren, wurden diese Aufnahmen wiedergegeben, um das Geräusch einer tatsächlichen Menschenmenge nachzuahmen. Indem sie den Kunstkopf in einem choreografierten Pfad (das heißt: in der virtuellen Menschenmenge) an den Lautsprechern vorbeitrugen – manchmal dicht, manchmal weit weg – platzieren sie die Sprechenden in einer überzeugenden, sich entwickelnden Klanglandschaft. Wenn Sie zuhören, hören Sie einen reichen kombinierten Klang, der das Gefühl vermittelt, dass auch Sie sich durch den Raum bewegen, in Unterhaltungen hinein und wieder aus ihnen hinaus.
Die Postproduktion gab Timpson die Möglichkeit, das Sounddesign auf vielfältige Weise zu nutzen. Indem er in jeder Szene bis zu dreißig bis vierzig verschiedene Tonspuren übereinander legte, gab er den Klanglandschaften eine manchmal verblüffende Unmittelbarkeit. In einer frühen Version einer Szene klangen die Soundeffekte noch nicht überzeugend. Als sich die Königin z.B. mit ihrem Gefolge in einer Gischt aus Seidenkleidern näherte, wäre es möglich, dies üppiger und femininer klingen zu lassen? Chris löste dies nicht, indem er die Klänge aufwendiger Kostüme aufnahm, sondern mit einem von Foley-Künstlern häufig verwendeten Verfahren: alltägliche oder unzusammenhängende Gegenstände aufzunehmen und sie dann zu einem neuen Sound mit den gewünschten Qualitäten zu verschmelzen.

Zurück in New York verbrachte das Team weitere Wochen damit, die Rohschnitte zu überprüfen, Bearbeitungen vorzuschlagen und gemeinsam daran zu arbeiten, Tiefe zu gewinnen und die Klanglandschaften zu verfeinern. Dazu gehörte auch die Aufmerksamkeit für die kleinsten Details, wie das Hinzufügen des Schreis eines Pfaus im Hintergrund des Gartens, ein Meckern über das Wetter auf Französisch und ein ruhiges Gähnen am Ende der Partyszene.

Zusammenfassung

Mit der fesselnden 3D-Audiounterstützung für die Ausstellung „Visitors to Versailles“ geht das Met Museum neue Wege im Ausstellungsdesign. Die Entscheidung, die Kunstkopfstereophonie als Grundlage für die Erzeugung immersiver akustischer Szenen zu verwenden, garantiert ein sehr intensives Hörerlebnis, das die Audioszenen zu einem integralen Bestandteil der Ausstellung macht. Auf der Produktionsseite ist dieses überzeugende Ergebnis jedoch mit einem gewissen Aufwand verbunden, da idealerweise die gewünschte Klangszene während der Aufnahme wiederhergestellt werden sollte. Dies erfordert ein sorgfältiges Casting der Performer und eine ausgefeilte Choreographie sowie tontechnische Tricks, um z.B. mit vertretbarem Aufwand so etwas wie eine Menschenmenge akustisch zu reproduzieren. Das Ergebnis rechtfertigt jedoch diesen Aufwand. Die akustischen Szenen von „Besucher von Versailles“ können Sie unter den unten stehenden Links anhören. Um einen bestmöglichen Höreindruck der 3D-Soundscapes zu bekommen, ist ein hochwertiger Kopfhörer mit cirumauralen Hörmuscheln zu empfehlen.

Wir danken Nina Diamond, Managing Editor und Content-Produzentin der Digitalabteilung von The Met, Jennifer Isakowitz, Senior Publicist & Interim Social Media Manager bei The Met und dem gesamten Content-Team für die freundliche Unterstützung, Hilfsbereitschaft und Geduld beim Entstehen dieses Artikels.
Die Fotos in diesem Artikel wurden freundlicherweise vom Metropolitan Museum of Art, New York, zur Verfügung gestellt.

Zwei Blogs und weitere Informationen über das Projekt sowie insbesondere die Links zu den Soundscapes der Ausstellung „Visitors to Versailles“ finden Sie hier:
https://www.metmuseum.org/exhibitions/listings/2018/visitors-to-versailles/audio-experience
https://www.metmuseum.org/blogs/now-at-the-met/2018/visitors-to-versailles-binaural-audio-experience
https://www.metmuseum.org/blogs/now-at-the-met/2018/visitors-to-versailles-sonic-storytelling