Das Newseum in Washington ist ein Museum mit einem Schwerpunkt auf interaktiven Inhalten, das für die Förderung der freien Meinungsäußerung und des ersten Verfassungszusatzes der Vereinigten Staaten ins Leben gerufen wurde und gleichzeitig die Entwicklung des Nachrichtenwesens nachzeichnet. Das Newseum residiert in seinem inzwischen zweiten Gebäude, das sieben Stockwerke mit einer Gesamtfläche von 23.000 m² umfasst. Es verfügt über fünfzehn Theatersäle und ebenfalls fünfzehn Galerien. Zu den Dauerausstellungen gehört auch die „Berlin Wall Gallery“, zu deren Exponaten das größte Stück der originalen Berliner Mauer außerhalb Deutschlands gehört, mit acht Mauerabschnitten sowie einem dreistöckigen DDR-Wachturm vom Checkpoint Charlie. Der neueste Teil der Dokumentation über die Berliner Mauer und die Teilung Deutschlands ist die „Berlin Wall VR Experience“, eine Virtual Reality Installation, die es möglich macht, in einem ca. siebenminütigen Ablauf quasi in der Zeit zurück zu reisen und die Situation in der geteilten Stadt selbst zu erleben.
Die Berlin Wall VR Experience war im Washingtoner Newseum von Juli bis Dezember 2017 als Teil der Dauerausstellung für alle Besucher zugänglich. Ich selbst hatte im September nach einem Besuch des Branchenverbandes Infocomm International (jetzt: AVIXA) die Gelegenheit, mir einen persönlichen Eindruck von der Installation zu verschaffen. Ergänzt wurde diese Erfahrung durch den Besuch der VR Days in Amsterdam, wo es weitere VR-Installationen zu erleben gab.

Ein persönlicher Eindruck, der sich beim Erleben der verschiedenen Produktionen einstellte, war der, dass man sich Moment der Betrachtung vielleicht nicht unbedingt direkt in einer anderen Realität glaubt, dass aber durch die Einbettung in eine virtuelle Szene die dort erlebten Situationen und Handlungen auf eine andere und vielleicht auch zusätzliche Weise als Erinnerung abgespeichert werden. Als kleinen Exkurs darf ich an dieser Stelle als Beispiel eine VR-Produktion über ein Rohingya-Flüchtlingslager erwähnen, die ich auf den VR Days gesehen hatte. Kurz nach der Betrachtung der Produktion war der Eindruck vielleicht noch gar nicht einmal so drastisch anders als bei einem inhaltlich vergleichbaren, traditionellen Fernsehbeitrag.
Der Aha-Effekt stellte sich erst einige Wochen später ein, als in den Radionachrichten von eben jenem Flüchtlingslager berichtet wurde – da stellte sich nämlich die Assoziation ein: „Ach das kenne ich, da war ich ja schon mal“. Das ist nun definitiv eine Reaktion, die man bei den nicht-immersiven elektronischen Medien normalerweise nicht hat. Dort entscheiden Regisseur und Kameramann über Bildausschnitt und Perspektive, so dass man daraufhin nicht den Eindruck hat, selbst schon vor Ort gewesen zu sein. Information wird natürlich in beiden Fällen transportiert, zudem ist natürlich die immersive VR-Variante (derzeit noch) spürbar aufwändiger auf der Benutzerseite. Man braucht halt eine VR-Brille und einen Computer mit angemessener Grafikleistung. Ein Massenmedium ist VR – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – also noch nicht, aber immerhin schon so weit verbreitet, dass eine Museumsinstallation realisierbar ist.

Berlin Wall VR Experience
Das Ziel, den Besuchern einen direkteren Zugang zur Lebenssituation in Berlin zur Zeit des kalten Krieges über eine Virtual Reality Installation zu vermitteln, ist also gut motivierbar. Dazu kommt, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene naturgemäß keinen direkten Erfahrungszugang zu der realen Situation mehr bekommen können, eben weil die Maueröffnung bereits mehr als ein Vierteljahrhundert her ist. Speziell diese Zielgruppe ist aber gleichzeitig relativ computeraffin und steht u.a. dank Computerspielen einer Immersion in virtuelle Umgebungen offen gegenüber.

Im Rahmen der Berlin Wall VR Experience reist der Besucher virtuell ins in Berlin zur Zeit des kalten Krieges und findet sich zu Beginn der Simulation zunächst auf der Westseite der Berliner Mauer wieder. Ein virtueller Reporter, also eine Art Hologramm oder Avatar, empfängt den Besucher und gibt ihm als Einstieg Hintergrundinformationen in Form eines kurzen Abrisses der Geschichte der Berliner Mauer. Im Rahmen dieser Einführung werden auch traditionelle Medien wie Fotografie in oder Filmausschnitte von Reden der US-Präsidenten John F. Kennedy oder Ronald Reagan eingespielt, die diese an der Berliner Mauer gehalten hatten.

Nach dieser Einführung ist der Besucher mit dem historischen Kontext und der Situation bekannt gemacht, in die er mit der folgenden Simulation versetzt wird. Er oder sie wird zunächst auf die Ostseite der Mauer transportiert und findet sich in einer Szene auf einer Straße in Ostberlin wieder. Es handelt sich um eine Umgebung, die sich baulich und vor allem von der Atmosphäre her von derjenigen in West-Berlin unterscheidet und unter anderem durch weniger persönliche Freiheit und auch Überwachung durch andere Personen geprägt ist.

Der Besucher kann mithilfe seiner Hand-Controller entlang der Straße teleportieren, sich die Berliner Mauer von der Ostseite ansehen – inklusive der Grenzsicherungsanlagen und des Todesstreifens. Man kann auch auf einen Wachturm teleportieren, mit den Controllern einen Suchscheinwerfer bedienen und aus der dortigen Perspektive die Suche der Grenzpolizisten nach Personen beobachten, die die Grenze von Ost-Berlin her überqueren wollen.

Die Situationen aus der Perspektive eines Flüchtenden zu erleben, bleibt dem Benutzer der Berlin Wall VR Experience erspart, vermutlich weil die potentiell traumatisierende Wirkung der immersiven Simulation wohl nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Erwachsene belastend sein könnte.
Im weiteren Verlauf der Simulation findet der Besucher den Eingang zu einem geheimen Kellerraum, in dem sich ein versteckter Zugang zu einem Tunnel befindet, der einen Fluchtweg unter der Mauer hindurch nach Westberlin darstellt.

In dem Kellerraum kann der Besucher Medien und Dokumente einsehen, die sich mit der Geschichte dieser Flucht befassen. Findet der Besucher den Zugang zum Tunnel unter einer Kiste, die er zur zunächst mit den Hand-Controllern wegräumen muss, und benutzt den Tunnel, so gelangt er wieder in den Westteil Berlins auf der anderen Seite der Mauer. Dort angekommen, findet man einen Vorschlaghammer vor, mit dem der Besucher mithilfe seiner Hand-Controller symbolisch die Mauer zerschlagen und zum Einsturz bringen kann.
In dieser sieben Minuten dauernden Virtual-Reality-Simulation kann natürlich die durch die Mauer und die Teilung Deutschlands geprägte Lebenssituation der Menschen im Ostteil der Stadt nur sehr konzentriert und skizzenhaft bzw. holzschnittartig wiedergegeben werden. Das Ziel der Simulation ist sicher auch nicht eine detaillierte historische Darstellung, sondern vielmehr, den Besuchern zu ermöglichen, sozusagen an der Geschichte persönlich teilzunehmen. In der Virtual Reality Simulation kann man also den Eindruck haben, eine historische Situation mit ihren wichtigsten Eigenschaften unmittelbar zu erleben und sich so auch einen eigenen, emotionalen Zugang zu den geschichtlichen Fakten eröffnen. Die historischen Details können dann im Zusammenhang mit dem Besuch der Berlin Wall VR Experience anhand der übrigen Medienstationen, Exponate und Zeitdokumente weiter erarbeitet werden.

Konzept und Technik der Installation
Technisch basiert die Installation auf der HTC Vive Virtual Reality Hardware und der Unity Game Engine. Teil des HTC Vive System ist ein externes Laser-Tracking-System, das auf dem sog. „Lighthouse“-Prinzip beruht. Es verwendet eine bis mehrere Basisstationen (die „Leuchttürme“), die mit einer Infrarotlaser-Scanner-Vorrichtung horizontale und vertikale Laserlicht-„Vorhänge“ erzeugen bzw. projizieren, die sich mit konstanter Winkelgeschwindigkeit durch den Raum bewegen. Synchronisierungs-Lichtimpulse aus stationären LEDs leiten jeweils eine neue Umdrehung der Lasereinheit ein. Eine Auswerteelektronik kann über mehrere Fotosensoren auf der VR-Brille diese Synchronimpulse erkennen und aus der Zeit, die bis zum Eintreffen des horizontalen und vertikalen „Laservorhangs“ vergeht, Position und Orientierung der Brille im Raum berechnen. Setzt man mehrere Basisstationen (Lighthouses) ein, so funktioniert das Tracking auch auf einer größeren Fläche bis neuerdings etwa 10m x 10m.

In der Newseum Installation werden vier Simulationsbereiche gleichzeitig betrieben, in denen ein Besucher jeweils einen Bewegungsspielraum von ca. 3 x 3 m hat. Dieser kann sich in der virtuellen Realität also in Grenzen bewegen, wobei eine speziell Kabelführung über Kopf trotz der kabelgebundenen VR-Brille für die nötige Bewegungsfreiheit sorgt.

Bei Annäherung an die Grenzen des realen Bewegungsspielraums sorgt die Software dafür, dass sich der Besucher auch in der Simulation nicht zu weit bewegt – sei es durch räumliche Begrenzung in Form von (virtuellen) Wandflächen oder durch Einblendung von Begrenzungslinien, die dem Benutzers signalisieren, dass er sich an dieser Stelle nicht weiter bewegen kann. Größere Distanzen werden, wie in vielen Virtual Reality Anwendungen, durch Teleportation zurückgelegt. Dabei zielt der Anwender mit den Hand-Controllern auf einen Ort in der Simulation und wird auf Knopfdruck dorthin versetzt, sofern dieser Ort begehbar, also Teil der interaktiven Simulation ist.
Für die Simulation eine Game-Engine wie Unity zu verwenden, hat den großen Vorteil, dass man für die Produktion des Contents sozusagen auf einen Standard Workflow zurückgreifen kann, zumindest soweit es die Visualisierung der Szenen in der virtuellen Umgebung betrifft. Natürlich handelt es sich bei der Berlin Wall VR Experience nicht um ein Computerspiel mit rein spieletypischen Aktionen, so dass das Ganze bei Konzeption und Entwicklung dann doch sehr schnell sehr interdisziplinär wird.

In der Tat haben die Ausstellungsmacher in Washington nicht nur mit Computerspiel-Designern und Unity-Entwicklern gesprochen, sondern auch mit Jornalisten, TV-Produzenten und Technologie-Experten – um nur einige zu nennen – und natürlich Historikern und Zeitzeugen. Darüber hinaus waren auch Experimente erforderlich, um herauszufinden ob das interaktive Storytelling in der Installation wie geplant funktionieren würde.

Die Berlin Wall VR Experience ist eben auch eher Interactive Storytelling als ein typisches Computerspiel, woraus sich wieder neue Herausforderungen ergeben. Wenn die Besucher selbst entscheiden können, welche Aktionen sie als nächstes und in welcher Reihenfolge ausführen wollen, kann man nicht eine lineare Erzählung wie in einem Film planen. Insbesondere hat man die Perspektive und Blickrichtung des Besuches nicht unter Kontrolle, wie ein Filmregisseur das etwa bei einem Dokumentarfilm hätte. Diese Teilautonomie des Besuchers kann aber gerade – wie eingangs bemerkt – der Schlüssel dazu sein, dass das Erlebte besonders intensiv erinnert und gelernt wird, was wiederum die klassischen Ausstellungsmedien gut ergänzt.

Apropos klassischen Medien: Die Berlin Wall VR Experience ist ein schönes Beispiel dafür, wie auf der einen Seite neue elektronische Medien auch neue Möglichkeiten der Informationsvermittlung eröffnen. Gleichzeitig erfordern sie aber von Planern und Systemintegratoren – hier auch von den Ausstellungsmachern – die Bereitschaft, die Wege der klassischen Medientechnik zu verlassen, sich auf neue Konzepte einzulassen und mit einem größeren Spektrum von beteiligten Personen und Firmen zusammenzuarbeiten, als dies früher der Fall war.

Eine Anmerkung dazu: Wie eingangs erwähnt, gab vor meinem Besuch der Berlin Wall VR Experience in Newseum der Branchenverband Infocomm International eine Erweiterung seiner Ausrichtung und Struktur sowie die damit einhergehende Umbenennung in AVIXA (AudioVisual Integrated eXperience Association) bekannt. Die Kombination des bekannten Namensbestandteils AV mit dem Ziel, dem Nutzer eine „integrated experience“, also ein integriertes, umfassendes Erlebnis, zu bieten, wird bei der Newseum Installation sehr deutlich sichtbar: Hier macht es die gewerkeübergreifende Zusammenarbeit von Medientechnik, Gamedesign und Filmproduktion-dramaturgie möglich, dass die Besucher quasi eine Zeitreise ins geteilte Berlin Unternehmen und Geschichte persönlich erleben.