Michel van der Aa’s „Eight“
VR-Installation / virtuelle Oper "Eight" bei den KunstFestSpielen Herrenhausen

Ende September bis ca. Mitte Oktober fanden in Hannover die aus Mai diesen Jahres wegen Corona verschobenen KunstFestSpiele Herrenhausen statt. Teil des Programms war die VR-Installation „Eight“, die im Festivalprogramm unter dem Motto „Musiktheater trifft auf Virtual Reality“ angekündigt wurde.
Eight ist ein Mixed-Reality-Projekt des Komponisten und Regisseurs Michel van der Aa in Zusammenarbeit mit der Singer-Songwriterin Kate Miller-Heidke. Es verbindet Musiktheater, Virtuelle Realität (VR) und bildende Kunst auf innovative Weise. Die Geschichte erzählt das Leben einer Frau in umgekehrter Chronologie: Die Besucher begegnen zuerst einer etwa 70-jährigen Frau, dann ihrer 35-jährigen Version und schließlich dann ihr als achtjährigem Mädchen. Dabei folgen sie der Frau wortwörtlich und sinnbildlich durch eine Mixed-Reality-Welt und interagieren sowohl mit ihr als auch mit der Installation.
Die ältere Frau führt die Besucher auf ihrer Reise zurück in die Vergangenheit und hinterlässt Spuren ihres Körpers und ihrer Erinnerungen. Diese werden an den Wänden als Hieroglyphen sichtbar, die bei Berührung die zugehörige Erinnerung freisetzen. Die Spuren weisen den Weg in einen Wald, wo die jüngere Frau mit ihrem Gesang den Besucher auf dem Weg zwischen den Bäumen begleitet. In einer Lichtung im dunklen Wald werden die Stimmen eines A-Cappella-Chors hörbar, und die Silhouetten der Sänger erscheinen. Der Weg der Besucher führt schließlich unter einen Tisch, wo das achtjährige Mädchen sitzt und sanft ins Ohr der Besucher singt. Die Reise endet in einem schwarzen Raum mit pulsierenden Wänden, die Erinnerungen und menschliche Figuren zeigen, bis die Musik verklingt.
Die Form und das Material der Installation sind wesentliche Bestandteile der Besuchererfahrung. Die Skulpturen und Formen werden in VR dargestellt, und die Geometrie der virtuellen Umgebung ist so auf die der realen kalibriert, dass die in der virtuellen Realität sichtbaren Grenzflächen räumlich mit den physischen übereinstimmen. Wenn ein Besucher also eine Wand in der VR-Umgebung berührt, spürt er die reale Wand der Installation. Markierungen auf den Wänden schalten neue Elemente der Geschichte frei, je nach Position des Besuchers. Die Wände reagieren auf Berührung, wodurch Bilder, Musik und Gesang beeinflusst werden.
Michel van der Aa arbeitete für dieses Projekt mit Kate Miller-Heidke, dem Designer Theun Mosk, dem Nederlands Kamerkoor und den Mixed-Reality-Entwicklern „The Virtual Dutch Men“ zusammen.
Das Projekt als VR-Installation und die Verbindung zur Oper
Nach dem Besuch der Installation hatte der Autor Gelegenheit, mit Michel van der Aa über das Projekt zu sprechen.
Michel van der Aa erklärte, dass das Projekt von Festivals als „Oper“ bezeichnet wird, er und sein Team es jedoch eher als VR-Installation betrachten. Zwar enthält es Elemente wie Gesang und Schauspiel, die auch in Musiktheater oder Oper vorkommen, doch im Kern geht es um eine immersive, interaktive Erfahrung in einem virtuellen Raum.
Die Erzählgeschwindigkeit ist bewusst traumähnlich gestaltet, mit einer Überfülle an visuellen und auditiven Eindrücken in kurzer Zeit. Dieses Übermaß ist gewollt und Teil der Erfahrung, da es an Träume erinnert, in denen oft Erinnerungsfragmente und Emotionen in einem dichten Strom auftreten.
Die Installation selbst stellt eine Art „Erinnerungsmembran“ dar, die den Besucher einlädt, die Erinnerungen der Hauptfigur – einer Frau – zu berühren, auszulösen und neu zu erleben. Michel van der Aa beschreibt, dass der Zuschauer vielleicht auch nicht eindeutig weiß, ob er sich in seinem eigenen Traum oder im Traum der Frau befindet, was eine mehrdeutige und poetische Verbindung zwischen den beiden schafft. Durch die physische Interaktion mit der Umgebung, wie das Berühren von Wänden oder Objekten, wird die Verbindung mit dieser Traumwelt verstärkt.
Interaktivität und Immersion
Michel van der Aa erläutert, dass die Interaktivität in der Installation bewusst subtil gehalten wurde. Obwohl der Zuschauer durch Berührungen neue Ereignisse auslösen kann – wie das Einschalten einer Lampe oder die Veränderung der Erscheinungsweise der Frau – gibt es eine Art Sicherheitssystem, das automatisch greift, falls der Zuschauer nicht interagiert. Dadurch wird sichergestellt, dass die Erzählung weiterläuft, unabhängig von den Aktionen der Besucher.
Die Reaktionen der Besucher sind sehr unterschiedlich: Manche sind zögerlich und wagen kaum, sich frei zu bewegen – speziell wenn Sie z.B. Angst vor großen Höhen haben. Andere erkunden die Umgebung und versuchen sogar, die Grenzen der VR-Installation zu sprengen, indem sie bewusst in den (virtuellen) Abgrund und so schließlich gegen die (realen) Wände der Installation laufen. Es gibt auch alternative Enden der Erzählung, je nachdem, wie sich der Zuschauer verhält – zum Beispiel, ob er gegen Ende dem Kind unter einen Tisch folgt oder nicht.
Trotz der Interaktivität bleibt die Kontrolle der Dramaturgie bei Michel van der Aa und seinem Team. Das Ziel sei es nicht, eine vollständig manipulierbare Welt zu schaffen, wie vielleicht in einem Computerspiel oder einem luziden Traum, sondern den Zuschauer emotional in die Welt einzubinden. Die Interaktivität und physische Immersion – etwa durch haptische Elemente wie Stoffe oder die Berührung von Wänden – dienen dazu, die Verbindung zur virtuellen Welt und zur Hauptfigur zu stärken.
Emotionale Resonanz und künstlerische Gestaltung
Ein zentrales Anliegen von Michel van der Aa ist es, eine emotionale Verbindung zwischen dem Zuschauer und der Hauptfigur herzustellen. Er zieht Vergleiche zur traditionellen Oper oder einem Konzert, bei dem die emotionale Wirkung durch gemeinsames Erleben entsteht. In der VR-Installation wird dies durch die Kombination aus subtilen Interaktionen und einer bewussten ästhetischen Gestaltung erreicht.
Besonders interessant findet Michel van der Aa die Möglichkeit, mit der Darstellung der virtuellen Welt zu experimentieren. Er hat erkannt, dass verfremdete, poetische oder surrealistische Darstellungen in der VR oft eine stärkere emotionale Wirkung erzeugen als realistische Umgebungen. Ein Beispiel hierfür sind flache, geometrisch verzerrte Felsen, die er bewusst als künstlerische Stilmittel einsetzt, um die Traumhaftigkeit der Umgebung zu unterstreichen.
Er spricht über die technische Herausforderung, physische und virtuelle Welten zu verbinden, etwa durch das haptische Feedback der Stoffe, die den Zuschauer stärker in die virtuelle Welt einbinden. Diese Verbindung schafft ein Gefühl der Präsenz, das Michel van der Aa besonders wichtig ist.
Zukunftsperspektiven und Herausforderungen
Michel van der Aa plant, in zukünftigen Projekten noch größere Räume und komplexere Erzählstrukturen zu erforschen. Die Idee ist, nicht-lineares und lineares Storytelling zu kombinieren und Besuchern die Möglichkeit zu geben, sich frei zwischen Haupt- und Nebenhandlungen zu bewegen. Zudem möchte er testen, wie evtl. auch mehrere Personen gleichzeitig in einer VR-Umgebung interagieren können, ohne dass sie physisch miteinander kollidieren.
Ein besonderes Interesse liegt darauf, VR als dramaturgisches Werkzeug weiterzuentwickeln, um Emotionen durch die Veränderung von Räumen und Umgebungen zu beeinflussen. Die Möglichkeit, Räume dynamisch zu gestalten – etwa den Zuschauer unter einem Tisch Schutz suchen zu lassen oder ihn von Felsen umgeben zu lassen – sieht er als entscheidenden Vorteil von VR gegenüber traditionellen Bühnenproduktionen.
Michel van der Aa zieht auch Inspiration aus aktuellen Entwicklungen in der Gaming-Welt. Er erwähnt das Spiel Half-Life: Alyx als Beispiel für beeindruckende immersive Erlebnisse und hebt hervor, wie Spiele interaktive Umgebungen nutzen, um die Verbindung zwischen Nutzer und virtueller Welt zu verstärken.
Abschließende Gedanken
Michel van der Aa ist begeistert von den künstlerischen Möglichkeiten, die VR bietet, und sieht es als eine Plattform, die weit über einfache Simulationen hinausgeht. Für ihn ist VR ein Werkzeug, um emotionale und poetische Geschichten zu erzählen, die den Zuschauer tief berühren können. Dabei sieht er VR nicht als Mittel zur Realitätsflucht, sondern als Kunstform, die völlig neue Ausdrucksweisen ermöglicht. Die Verbindung von physischen und virtuellen Elementen sowie die emotionale Einbindung des Zuschauers bleiben zentrale Aspekte seiner Arbeit.
Projektbeteiligte
Der Komponist und Regisseur Michel van der Aa hat das Thema Oper auf seine eigene, einzigartige Weise beeinflusst mit Aufführungen wie „Sunken Garden“ (2011) und „Blank Out“ (2015), in denen er das Genre mit Video und digitalen Anwendungen kombiniert. „Eight“ ist sein zweites digitales Projekt, für das er für das er sowohl komponiert als auch Musik spielt.
Die Australierin Kate Miller-Heidke ist eine preisgekrönte Schauspielerin, Songwriterin und Sängerin. Sie spielt die Rolle der 35-jährigen Frau in ‚Eight‘.
Der Nederlands Kamerkoor wurde vor mehr als 80 Jahren gegründet und ist einer der besten Chöre der der Welt. Van der Aa hat bereits mit dem Nederlands Kamerkoor an der Oper ‚Blank Out‘ (2015) und ‚The Book of Sand‘ gearbeitet.
Die Installation wurde von Theun Mosk gebaut, der schon früher mit Van der Aa an Bühnenbild und Lichtdesign gearbeitet hat. Die Bewegungserfassung der Hauptfiguren der Installation und die Entwicklung der 3D-Visualisierungen erfolgt in Zusammenarbeit mit The Virtual Dutch Men, einem Unternehmen, das sich seit zwei Jahrzehnten auf Mixed Reality spezialisiert hat.
Links:
https://www.vanderaa.net/work/eight/
KunstFestSpiele Herrenhausen:
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